Erich Kästner wäre am 23. 2. diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Stellen wir uns nun aber einmal vor, er wäre nicht gestorben, sondern würde noch leben. In diesem Falle hätten wir weder Kosten noch Mühe gespart, um ein Exklusivinterview mit ihm zu besorgen.

Ich: Sehr geehrter Herr Kästner, ich freue mich, dass ich mich mit Ihnen treffen durfte. Sie sind ja nun 100 Jahre alt geworden - Herzlichen Glückwunsch dazu. Wie fühlen Sie sich?

E.K.: Gestern trug man noch Kinderschuhe. Heute sitzt man hier vorm Haus. Morgen fährt man zur ewigen Ruhe ins Jenseits hinaus.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ich liebe das Leben und den Tod und das, was beides trennt.

Was wollten Sie in Ihrem Leben erreichen und haben Sie es geschafft?

Bis ich 30 war, wollte ich, dass man meinen Namen kennt. Bis 35 wollte ich anerkannt sein. Bis 40 sogar ein bisschen berühmt. Obwohl mir das Berühmtsein gar nicht so wichtig war. Aber es stand nun mal auf meinem Programm. Also musste es eben klappen.

In Ihrem Buch "Als ich ein kleiner Junge war" haben Sie Ihre Kindheit beschrieben. Können Sie uns vielleicht eine kleine Geschichte daraus erzählen, die Ihr späteres Leben beeinflusst hat?

Ich ging sehr gern zur Schule und habe in meiner gesamten Schulzeit keinen Tag gefehlt Ich marschierte morgens mit dem Ranzen los, ob ich gesund oder stockheiser war. Ich wollte lernen und nicht einen Tag versäumen.Und wenn mich die Leute, wie sie es ja bei Kindern gerne tun, fragten: "Was willst du denn später einmal werden?", antwortete ich aus Herzensgrunde: "Lehrer!" Es war der größte Irrtum meines Lebens. Ich war kein Lehrer, sondern ein Lerner. Ich wollte nicht lehren, sondern lernen. Ich hatte Lehrer werden wollen, um möglichst lange ein Schüler bleiben zu können. Ich wollte Neues, immer wieder Neues aufnehmen und um keinen Preis Altes, immer wieder Altes weitergeben. 

Am 20. 5. 1933 haben die Nazis Ihre Bücher verbrannt. Sie waren dabei und haben zugesehen. Warum haben Sie nichts unternommen?

Die Ereignisse 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis die Verteidigung Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.

Aber warum sind Sie dageblieben? In Deutschland mussten Sie doch die ganze Zeit Angst haben, dass Sie verhaftet werden - außerdem durften Sie auch nur noch über unverfängliche Themen schreiben und selbst diese Texte konnten Sie nur im Ausland publizieren. Warum also?

Ein Schriftsteller will und muss erleben, wie das Volk, zu dem er gehört, in schlimmen Zeiten sein Schicksal erträgt. Im übrigen ist es seine Berufspflicht, jedes Risiko zu laufen, wenn er dadurch Augenzeuge bleiben und eines Tages schriftlich Zeugnis ablegen kann.

Um das Interview mit einem weniger traurigen Thema zu beenden, haben wir noch eine Bitte an Sie. In Ihrem Alter haben Sie sicher sehr viel Lebenserfahrung. Könnten Sie unseren Lesern vielleicht noch einen guten Rat geben?

Was immer auch geschieht: Nie dürft ihr so tief sinken von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken!

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Alles, was ich Erich Kästner im Laufe des Interviews habe sagen lassen, hat er so oder ähnlich selbst gesagt oder geschrieben. Teilweise waren leichte Änderungen unumgänglich. Die Texte sind im Original aus: "Dr. Erich Kästners lyrische Hausapotheke", "Als ich ein kleiner Junge war", "Das große Erich Kästner Lesebuch", "Kurz und bündig", "Der tägliche Kram", "Mein liebes Muttchen, du!".